Der Bundesgerichtshof (BGH) hat kürzlich in zwei Verfahren zum sogenannten „Recht auf Vergessenwerden“ entschieden. Dabei kam der BGH zu dem Ergebnis, dass die widerstreitenden Interessen im Rahmen der Abwägung grundsätzlich gleichberechtigt zu behandeln sind. Dies stellt eine Abkehr der bisherigen Rechtsprechung dar. Wir haben uns dies einmal genauer angeschaut.
Der Inhalt im Überblick
Der digitale Radiergummi
Was ist das Recht auf Vergessenwerden eigentlich? Das Recht auf Vergessenwerden hat eine hohe Bedeutung in der Praxis. Schließlich soll es gewährleisten, dass digital gespeicherte personenbezogene Daten nicht dauerhaft verfügbar sind. Das Recht auf Vergessenwerden stellt einen Teil des Rechts auf Informationelle Selbstbestimmung, also dem Grundrecht auf Datenschutz schlechthin, dar.
Das Recht auf Vergessenwerden, welches gerne auch einmal als „digitaler Radiergummi“ bezeichnet wird, stand beispielsweise im Jahr 2014 besonders im Fokus. Mit Urteil vom 13.05.2014 entschied der EuGH, dass Personen unter bestimmten Umständen verlangen können, dass auf sie bezogene Daten aus Suchmaschinen gelöscht werden müssen. Die Klage richtete sich damals, welch Überraschung, gegen die Google Inc.
Mord bedeutet lebenslänglich – oder?
Auch deutsche Gerichte haben sich mit dem Recht auf Vergessenwerden in den letzten Jahren immer wieder befassen müssen. Ein Mann, welcher im Jahr 1982 wegen zweifachen Mordes und versuchten Mordes verurteilt worden war, hatte gegen ein Nachrichten-Magazin geklagt, weil dieses seinen vollen Namen genannt und zudem archivierte Ausgaben über mehrere Jahre online zugänglich gemacht hatte. Nachdem das OLG Hamburg dem Kläger zunächst Recht gegeben hatte, weil die Berichterstattung auf Grund der stigmatisierenden Wirkung gegen das Persönlichkeitsrecht des Klägers verstoßen habe, hat der BGH das Urteil im Jahr 2012 aufgehoben. Dagegen hatte der Kläger Verfassungsbeschwerde erhoben.
Sieben Jahre später erging dazu ein Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), in welchem es nach Abwägung aller Umstände des Einzelfalls eine Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Beschwerdeführers erkannte. Zumindest außerhalb des Strafrechts ist es offenbar möglich, einen Mord vergessen machen zu lassen.
Die derzeitige Rechtslage
Das Recht auf Vergessenwerden ist in Deutschland nicht einfach gesetzlich geregelt, zumindest nicht so umfassend, wie man es bei einem Recht mit Grundrechtsqualität möglicherweise erwarten würde. In Art. 17 DSGVO ist immerhin das Recht auf Löschung legal definiert. In Absatz 1 der Vorschrift wird beschrieben, unter welchen Voraussetzungen personenbezogene Daten zu löschen sind. Lediglich in Absatz 2 existiert eine Regelung, welche sich mit der Verbreitung von personenbezogenen Daten, insbesondere im Internet, befasst:
„Hat der Verantwortliche die personenbezogenen Daten öffentlich gemacht und ist er gemäß Absatz 1 zu deren Löschung verpflichtet, so trifft er unter Berücksichtigung der verfügbaren Technologie und der Implementierungskosten angemessene Maßnahmen, auch technischer Art, um für die Datenverarbeitung Verantwortliche, die die personenbezogenen Daten verarbeiten, darüber zu informieren, dass eine betroffene Person von ihnen die Löschung aller Links zu diesen personenbezogenen Daten oder von Kopien oder Replikationen dieser personenbezogenen Daten verlangt hat.“
Interessant ist hierbei auch, dass Art. 17 DSGVO neben der offiziellen Überschrift „Recht auf Löschung“ eine Überschrift in Klammern „Recht auf Vergessenwerden“ trägt. Aus Erwägungsgrund 66 zur DSGVO lässt sich entnehmen, dass der europäische Gesetzgeber die Notwendigkeit erkannt hat, das Recht auf Vergessenwerden zumindest genauer zu definieren, als dies vor Schaffung der DSGVO der Fall war.
Google, immer wieder Google
Im einer der nunmehr ergangenen Entscheidungen des BGH hat wieder einmal Google eine Hauptrolle gespielt. Im Verfahren VI ZR 405/18 war der Kläger Vorsitzender eines Regionalverbandes einer Wohlfahrtsorganisation, welcher im Jahr 2011 Verbindlichkeiten von ca. 1 Mio. EUR angehäuft hatte. Damals hatte die örtliche Tagespresse darüber berichtet, unter Nennung des vollen Namens des Klägers. Dieser verlangte nun von Google, die Presseartikel bei der Suche nach seinem Namen nicht mehr in der Ergebnisliste anzuzeigen. Dies blieb allerdings ohne Erfolg.
Auch der BGH kam zu diesem Ergebnis. Die Grundrechte des Klägers müssten in diesem Fall zurückstehen, da das Interesse der Allgemeinheit an der Berichterstattung von Tatsachen höher zu gewichten sei. Dies ist sicherlich nicht überraschend, da insbesondere ein Vergleich mit der Berichterstattung über schwere Kapitalverbrechen einen deutlich schwerwiegenderen Eingriff in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht darstellen dürfte.
Gewichtung der Grundrechte
Der BGH hatte entschieden, dass auch kein Anspruch aus Art. 17 DSGVO bestehe. Zudem hat der BGH in dieser Entscheidung klargestellt, dass die widerstreitenden Interessen einer „gleichberechtigten Abwägung“ unterliegen. Hierzu führt der BGH aus:
„Da im Rahmen dieser Abwägung die Meinungsfreiheit der durch die Entscheidung belasteten Inhalteanbieter als unmittelbar betroffenes Grundrecht in die Abwägung einzubeziehen ist, gilt keine Vermutung eines Vorrangs der Schutzinteressen des Betroffenen, sondern sind die sich gegenüberstehenden Grundrechte gleichberechtigt miteinander abzuwägen.“
Daraus folgt aus Sicht des BGH auch, dass ein Betreiber einer Suchmaschine nicht erst dann tätig werden muss, wenn eine offensichtliche Rechtsverletzung des Betroffenen vorliegt. Dies heißt im Umkehrschluss, dass daraus deutlich höhere Pflichten für einen Suchmaschinenbetreiber folgen. Im Grunde muss dieser nun deutlich strengere Kontrollmaßnahmen vornehmen, um Grundrechtsverstöße zu vermeiden. Dies stellt eine deutliche Abkehr vom Urteil des BGH vom 27.02.2018 (Az. VI ZR 489/16) dar.
Vorabentscheidung des EuGH
Im zweiten „aktuellen“ Verfahren hat der BGH dem EuGH zwei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.
- Zum einen wird sich der EuGH mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob der Betroffene zunächst einmal – beispielsweise im Wege einer einstweiligen Verfügung – gegen den Inhalteanbieter vorgehen muss, um damit die Wahrheit des verlinkten Inhalts zumindest vorläufig klären zu lassen.
- Zum anderen muss der EuGH beantworten, wie mit Vorschaubildern (sogenannten „thumbnails“) umzugehen ist, die in der Trefferliste auftauchen, ohne dass man den konkreten Kontext, zu dem sie inhaltlich auf einer Website veröffentlicht wurden, erkennen kann.
Die hier entschiedenen bzw. noch zu entscheidenden Fragen dürften von hoher praktischer Relevanz sein. Das Recht auf Vergessenwerden ist als Teil des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts von enormer Bedeutung und betrifft daher jeden Einzelnen. Jede Entscheidung hierzu ist grundsätzlich hilfreich, das Recht auf Vergessenwerden weiter zu konkretisieren, was zu einer erhöhten Rechtssicherheit beitragen dürfte. Schließlich ist bei einer Abwägung von widerstreitenden Interessen mit Grundrechtsbezug stets sehr stark auf den konkreten Einzelfall zu achten. Es ist aber zu erwarten, dass Auslistungsverfahren zukünftig deutlich leichter zu verfolgen sind, da eine wesentliche Hürde durch die „Gleichberechtigung“ der widerstreitenden Interessen genommen worden ist.