Die Diskussionen über die Vorratsdatenspeicherung sind so alt wie der Datenschutz selbst. Die einen sehen große Chancen darin, das Internet nicht zu einem rechtsfreien Raum verkommen zu lassen. Die anderen befürchten Massenüberwachungen von Bürgerinnen und Bürgern. Ein seit jeher heiß diskutiertes Thema im Spannungsfeld zwischen Strafverfolgung und Datenschutz.
Der Inhalt im Überblick
Lockert der EuGH seine Linie zur Vorratsdatenspeicherung?
Mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 30. April 2024 (Az.: C-470/21) hat sich der Handlungsrahmen für die Mitgliedstaaten der EU zumindest erweitert. Die flächendeckende Speicherung von IP-Adressen für die Bekämpfung schwerer Kriminalitätsarten wäre danach grundsätzlich möglich. Möglicherweise nach diesem Urteil aber auch die Speicherung zur Verfolgung von Hasskriminalität oder Urheberrechtsverletzungen. Nimmt die politische Diskussion damit wieder Fahrt auf?
Sachverhalt des Urteils: „Three Strikes“ von HADOPI
Der Fall vor dem EuGH betraf ein französisches Verfahren im Zusammenhang mit dem behördlichen „HADOPI-System“ zur Bekämpfung von Urheberrechtsverletzungen. Das sogenannte „Three-Strikes“-Modell der zur Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen gegründeten Behörde sah vor, dass Nutzer bei Verstößen gegen das Urheberrecht (z.B. illegales Filesharing) nach drei Warnungen sanktioniert werden konnten. Die Behörde nutzte hierbei auf Vorrat gespeicherte IP-Adressen, um wiederholt gegen das Urheberrecht verstoßende Internetnutzer zu identifizieren.
Der EuGH stellte hierzu fest, dass eine anlasslose Speicherung von IP-Adressen für solche Strafverfolgungszwecke zulässig sein könne, wenn die Schwere des aus der Vorratsdatenspeicherung der IP-Adressen resultierenden Grundrechtseingriffs in einem angemessenen Verhältnis zur Gewichtigkeit des hiermit verfolgten Gemeinwohlziels stehe. Kurzum: es muss verhältnismäßig sein.
Die weiteren Voraussetzungen dafür seien:
- Strikte Trennung von IP-Adressen und anderen personenbezogenen Daten,
- Keine Erstellung detaillierter Persönlichkeitsprofile durch die Speicherung der IP-Adressen.
Mögliche Strafverfolgungsmaßnahmen aufgrund gespeicherter IP-Adressen
Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen zum Zweck der Strafverfolgung wurden bisher vom EuGH durch die enge Auslegung des Begriffs „schwere Straftat“ eingeschränkt. Auf Grundlage des EuGH-Urteils könnten Strafverfolgungsbehörden anlassunabhängig gespeicherte IP-Adressen nicht nur bei schwerwiegenden Straftaten wie Terrorismus oder Kinderpornografie, sondern auch bei leichteren Straftaten nutzen, soweit ein rechtlicher Rahmen hierfür geschaffen würde.
Das umfasst zum Beispiel die Verfolgung von:
- Internetbetrügern, die mittels Phishing oder anderer Technologien personenbezogene Daten entwenden,
- Hasskriminalität im Internet, wodurch gezielt Täter identifiziert und zur Rechenschaft gezogen werden könnten,
- Urheberrechtsverletzungen, insbesondere durch illegales Filesharing von geschützten Inhalten.
Vorratsdatenspeicherung: Neues deutsches Gesetz möglich?
Für den deutschen Gesetzgeber kann das Urteil neue Impulse für ein Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung schaffen. Das Urteil zeigt, dass eine anlasslose Speicherung von IP-Adressen auch etwa zur Bekämpfung von allgemeiner Internetkriminalität grundsätzlich möglich sein kann. Die bisherige Diskussion in Deutschland drehte sich allerdings vor allem um die Verhältnismäßigkeit solcher Eingriffe in die Grundrechte. Also um die gleiche Frage, die nun wieder im Raum steht.
Nun ist auch die Frage, ob der Gesetzgeber auf Basis des EuGH-Urteils neue Regelungen schaffen möchte und die genannten Straftaten und Maßnahmen entsprechend verhältnismäßig zueinander stehen.
Hessen hat jedenfalls den ersten Vorstoß gewagt und einen Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Mindestspeicherungvon IP-Adressen für die Bekämpfung schwerer Kriminalität in den Bundesrat eingebracht.
Die Bundesregierung präferiert dagegen das sogenannte Quick-Freeze Verfahren. Beim Quick Freeze-Verfahren können die Ermittlungsbehörden relevante Telekommunikationsdaten („Verkehrsdaten“ wie z.B. IP-Adressen oder Telefonnummern) umgehend bei den Providern einfrieren lassen, wenn der Verdacht auf eine Straftat von erheblicher Bedeutung (z.B. Totschlag oder Mord) besteht. Bei den leichteren Straftaten scheinen sich Hessen und Bund ohnehin einig, dass die Hürde der Verhältnismäßigkeit zu groß sei.
In Sachen Verhältnismäßigkeit bei digitaler Strafverfolgung scheint allgemein noch Luft nach oben zu sein. Erst vor wenigen Wochen hat sich auch das BVerfG mit dem Urteil vom 1.10.2024 (1 BvR 1160/19) mit der Verhältnismäßigkeit von Datenspeichern zur Kriminalitätsbekämpfung befasst. In diesem Urteil ging es um polizeiliche Speicherbefugnisse nach dem Bundeskriminalamtgesetz. Die Karlsruher Richterinnen und Richter sahen hier Nachholbedarf bei der Schaffung von angemessenen anlassbezogenen Speicherschwellen von Kriminaldaten im Informationssystem des Bundeskriminalamts und im polizeilichen Informationsverbund.
Kritik & Risiken einer Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen
Kritiker warnen vor einem erheblichen Eingriff in die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger, da durch die anlasslose Speicherung von IP-Adressen auch unschuldige Personen umfangreich überwacht werden könnten.
Auch wenn IP-Adressen nicht automatisch zu konkreten Identitätsdaten führen, besteht die Gefahr, dass durch Kombination mit anderen Daten Persönlichkeitsprofile erstellt werden. Diese Sorge scheint der EuGH zu teilen und deshalb auch direkt in seinem Urteil zu adressieren.
Schließlich bleibt aber die Frage der Erforderlichkeit einer Vorratsdatenspeicherung, womit auch ihre Verhältnismäßigkeit steht und fällt. Stand heute ist das Internet kein rechtsfreier Raum, jede Handlung kann einer IP-Adresse zugeordnet werden und ist bei den Providern gespeichert. Oftmals gibt es weitere tatsächliche Anknüpfungspunkte zur Feststellung einer Täteridentität. Die Ermittlungsbehörden haben gem. Art. 6 Abs. 1 lit. c DSGVO und § 163 Abs. 3 StPO auch umfangreiche Zugriffsrechte auf IP-Adressen und weitere anlassbezogen gespeicherte personenbezogene Daten und könnten gem. § 100a StPO bei schweren Straftaten gezielt überwachen. Gleichwohl mangelt es bei den leichteren Straftaten oftmals an Kapazitäten und IT-Kompetenzen der Ermittlungsbehörden. Letztlich ist die IP-Adresse auch immer nur ein Indiz für eine konkrete Person. So ist der Beweis einer Straftat über den Anschlussinhaber oftmals nicht zu erbringen, wenn mehrere Personen einen Internetanschluss zum Tatzeitpunkt hätten nutzen können.
Das Urteil bietet sicherlich erneut Anlass über anlassunabhängige Datenspeicherung zu Strafverfolgungszwecken zu diskutieren. Fraglich bleibt aber, ob die schleppende Strafverfolgung im Internet durch eine Vorratsdatenspeicherung wirklich verbessert würde, oder die Ressourcen an anderer Stelle ausgebaut werden müssten.