Belästigungen gehören zum Online-Alltag vieler Mädchen und Frauen: Die kürzlich durch die Kinderhilfsorganisation Plan International veröffentlichten Zahlen sind alarmierend. Digitale Gewalt bringt uns zum Schweigen – wo uns Datenschutz und informationelle Selbstbestimmung doch eigentlich eine Stimme verleihen sollten.
Der Inhalt im Überblick
Wie Mädchen online durch die Hölle gehen
Das Internet ist voll von Beleidigungen, Dick Pics und Bedrohungen, viele Posts auf Facebook oder Instagram enden mit Anfeindungen. Das dürfte heutzutage niemanden mehr überraschen. Die Non-Profit-Organisation Plan International Deutschland e.V. liefert nun allerdings Zahlen – und diese sind mehr als beunruhigend.
Der diesjährige Bericht zur Situation von Mädchen auf der ganzen Welt (The State of the World’s Girls Report) mit dem passenden Titel „Free to be online – Erfahrungen von Mädchen und jungen Frauen mit digitaler Gewalt“ zeigt: Mehr als die Hälfte der befragten Mädchen wurde bereits online belästigt, beschimpft oder bedroht. Für die Umfrage brachen 14.000 Mädchen und junge Frauen im Alter von 15 bis 24 Jahren aus 22 Ländern, darunter Nigeria, Indien und Deutschland, ihr Schweigen.
Aus Verzweiflung, Demütigung und Angst ziehen sich viele der Betroffenen aus den sozialen Medien zurück, verstummen langsam. Verständlich, da Social Media zunehmend zum verbalen Schlachtfeld mutiert. Der Preis ist jedoch hoch: Sie verzichten auf die Ausübung ihrer informationellen Selbstbestimmung, ihres immer wichtiger werdenden Online-Lebens.
Erschreckende Zahlen
Jedes zweite der 1003 in Deutschland befragten Mädchen hat sexualisierte Gewalt in sozialen Medien erlebt, dreiviertel wurden Opfer digitaler Gewalt – entsetzlich. Bedrohung, Beleidigung und Diskriminierung in sozialen Medien widerfuhren weltweit 58 Prozent der Befragten (Deutschland: 70 Prozent). Der Irrsinn kennt keine Grenzen: Digitale Gewalt und Belästigung trifft bereits Achtjährige. Erstmals belästigt werden Mädchen mehrheitlich zwischen 14 und 16 Jahren.
Hass und Hetze
Digitale Gewalt ist das Schlagwort für vielfältige Formen online ausgelebten Wahnsinns. Persönlich erlebt oder im Freundeskreis davon erfahren haben weltweit:
- Beschimpfungen und Beleidigungen (67 Prozent),
- sexuelle Belästigung (55 Prozent),
- Bodyshaming (44 Prozent),
- Demütigung (44 Prozent),
- Rassistische Kommentare (41 Prozent),
- Stalking (41 Prozent),
- Kommentare gegen die sexuelle Orientierung (35 Prozent)
- und Androhung physischer Gewalt (33 Prozent).
Bei 82 Prozent der Mädchen trafen mehrere Kategorien zu. Unfassbar: Fast jede fünfte Befragte hat bereits jede der oben genannten Formen erlebt. Wer den Beitrag von Joko und Klaas (Männerwelten) gesehen hat, der weiß, sexuelle Belästigung ist keine Randerscheinung. Weder auf der Straße, noch online.
Die Influencerin Charlotte Weise erzählt:
„Mir hat mal ein Mädchen geschrieben, ich würde hoffentlich von einem Ausländer vergewaltigt werden, weil ich eine Story gegen Rassismus gemacht hatte. Auch werde ich öfter als „zu dick“ beleidigt. […] Vor einiger Zeit hat eine Person meine Tanzvideos zusammengeschnitten und bei „Pornhub“, einer Pornoseite, hochgeladen. Zuerst habe ich mich machtlos gefühlt. Dann habe ich es gemeldet und es wurde fünf Minuten später gelöscht. Wenn uns so was passiert, sollten wir immer aktiv werden und es nicht einfach nur dulden!“
Am häufigsten anzutreffen ist digitale Gewalt auf Facebook (39 Prozent) und Instagram (23 Prozent), in Deutschland jedoch hauptsächlich auf Instagram. YouTube, Snapchat, Twitter sowie TikTok brauchen sich jedoch nicht zu verstecken, denn auch sie werden zur Verbreitung genutzt.
Leid und Einschüchterung
Digitale Gewalt besteht zwar „nur“ aus Worten, ist aber ebenso schmerzhaft wie körperliche Gewalt:
- 42 Prozent aller Befragten leiden deswegen unter einem geringeren Selbstwertgefühl bzw. an weniger Selbstbewusstsein.
- Genauso viele empfinden mentalen oder emotionalen Stress.
- 24 Prozent verspüren Angst, die sich körperlich auswirkt.
Irgendwann ist es nicht mehr auszuhalten: Mehr als ein Drittel der Mädchen und jungen Frauen änderten infolge von Online-Belästigungen ihr Verhalten in den sozialen Medien. Sie verwendeten sie seltener (13 Prozent), äußerten sich weniger (13 Prozent) oder verließen das Netzwerk ganz (8 Prozent). Sie ziehen einen Schlussstrich sowie sich selbst zurück in ihr Schneckenhaus. Und die Täter? Die machen weiter.
Was hat das mit Datenschutz zu tun?
Nun könnte man natürlich sagen, wer sich in sozialen Medien rumtreibt, der muss damit rechnen, angegriffen zu werden – so nach dem Motto, wenn du deine Daten dort freiwillig preisgibst, selbst schuld. Aber ganz ehrlich: Victim Blaming ist Mist. Die Betroffenen haben sich entschieden, online aufzutreten, das gibt allerdings niemandem das Recht, diese Mädchen und Frauen verbal zu attackieren. Datenschutz ist kein Täterschutz.
Klar, wer sein Facebook- oder Instagram-Profil pflegt, mit Inhalten füllt und fleißig kommentiert, achtet häufig nicht allzu sehr auf den Schutz seiner Daten. Der Datenschutz ist aber nicht der erhobene Finger, als der er stets dargestellt wird, vielmehr wahrt er den freien Willen: Grundsätzlich darf nur ich selbst über meine personenbezogenen Daten bestimmen, keiner sonst. Wenn ich mich in sozialen Medien registrieren, Bilder von mir posten und meine Meinung äußern möchte, dann tue ich das auch. Punkt.
Diese informationelle Selbstbestimmung ist es jedoch, die von Online-Hatern, Trollen sowie Irren Stück für Stück untergraben wird. Betroffene drängt man immer mehr aus dem Online-Leben. Man macht sie mundtot, bis jeglicher Widerstand verpufft und das eigene Ego ins Unermessliche gestiegen ist. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG ist allerdings nicht das Papier wert, auf dem es steht, wenn Regierungen sowie soziale Medien den Tätern freien Lauf lassen.
Die Vorsitzende der Geschäftsführung bei Plan International Deutschland, Maike Röttger, erklärt:
„Es ist unverantwortlich, dass die Betroffenen mit Online-Gewalt allein gelassen werden. Diese Angriffe haben in vielen Fällen tiefgreifende Folgen für ihr Selbstvertrauen und damit auf ihr gesamtes Leben. Angesichts der Tatsache, dass viele Mädchen und Frauen aufgrund von der Corona-Krise einen zunehmenden Teil ihres Lebens online verbringen und die Zahl der Internetzugänge weltweit zunimmt, ist es an der Zeit, dass digitale Plattformen ihre Nutzer:innen verstärkt schützen und Meldemechanismen so optimieren, dass die Täter:innen zur Rechenschaft gezogen werden können.“
In der Verantwortung sehen knapp die Hälfte der Befragten die Social Media-Betreiber. An zweiter Stelle stehen Regierungen: Ohne bessere Gesetze und Strafverfolgung haben die Täter leichtes Spiel.
Nicht aufgeben
Irgendetwas läuft hier gewaltig schief – die Gesellschaft verroht, das digitale Leben entwickelt sich zum Boxkampf ohne Regeln. Was bleibt, sind die zahlreichen Opfer, die lieber schweigen, als weiter gedemütigt zu werden. Für diese gilt es nun einzustehen, sei es auf dem Schulhof, in der Kommentarspalte oder per offenem Brief. Datenschutz heißt auch, sich frei äußern, digital auftreten zu können, wenn man möchte. Lassen wir uns diese Option nicht von irgendwelchen Spinnern wegnehmen.
Der Begriff „Täterschutz“ trifft das Problem genau. Rein technisch ist es doch möglich die Absender mit Namen und Adressen herauszufinden. Warum erfolgt bei einer Löschung durch Facebook u.a. Portale nicht sofort eine Information an den Betroffenen bzw. die Polizei oder erfolgt automatisch eine Speicherung in einem Pool, auf den zuständige Behörden direkt zugreifen können? Für Online-Hater und Trolle darf es keinen Datenschutz und keine Anonymität geben. Meines Erachtens leisten die im Artikel genannten Portale mindestens Beihilfe im strafrechtlichen Sinne. Erst recht, wenn es für die Herausgabe die entsprechenden Daten mit hohem Aufwand erfolgt oder aus „Datenschutzgründen“ erschwert oder verweigert wird.
Wow, vielen Dank für den gelungenen, wenn auch sehr erschreckenden Beitrag. Dass es digitale Gewalt gibt, dürfte mittlerweile wirklich jedem klar sein. Dass die Zahlen aber so hoch sind, hätte ich nicht erwartet. Ich bin schockiert!
Nicht berücksichtigt sind Jungen und Männer, auch sie werden Opfer von digitaler Gewalt, angefangen bei Beleidigungen und Bloßstellungen bis hin zu Morddrohungen. Gerade solche Fälle werden – wie auch Gewalt im realen Leben gegen Jungen und Männer – weniger berücksichtigt.
Mein Sohn (14 Jahre) gehört zu den Jugendlichen, die sich zumindest aktuell (noch) nicht auf den Social Media Kanälen herumtreiben, d.h. er schaut schon, postet selbst aber nicht und hat auch kein eigenes Profil. Unglaublich, aber wahr ;). Vermutlich hat mein gehobener „Datenschutz-Finger“ hier seinen Beitrag geleistet.
Ich könnte mir allerdings sehr gut vorstellen, dass er ebenso Opfer digitaler Gewalt sein könnte. Er entspricht nicht dem Standard, er hat keine Modelmaße und vertritt konsequent seine Meinung. Das dürfte nicht allen gefallen. Wäre er betroffen, würde ich auch einschreiten – mit allem, was nötig und möglich ist.
Darauf warten, dass dieser Fall einmal eintritt und wir quasi selbst betroffen sind, möchte ich aber nicht. Viele Möglichkeiten, etwas jetzt schon aktiv zu unternehmen, sehe ich aber auch nicht, außer direkt in Kommentare einzusteigen, in denen andere für ihre Fragen, ihre Kommentare oder ihr Aussehen niedergemacht. Dann bleibt aktuell auch nur die Möglichkeit, diese Personen mit meinem Kommentar zu stärken. Solange Social Media Anbieter hier keinen „Melde-Button“ oder ähnliches anbieten und solchen Meldungen auch wirklich nachgehen, hilft nur eine verantwortungsvolle Community, die die vermeintlich „Schwachen“ schützt und stärkt. Idioten wird es leider immer geben.
Sie haben recht, Jungen und junge Männer sind natürlich ebenfalls häufig Opfer digitaler Gewalt. Die Umfrage der Plan International ist ein Welt-Mädchenbericht, weshalb lediglich Mädchen und junge Frauen befragt wurden. Der Fokus lag hier wohl auf den Mädchen, weil diese häufig nur deshalb angegriffen werden, weil sie Mädchen sind. Nichtsdestotrotz ist digitale Gewalt gegenüber beiden Geschlechtern furchtbar und durch nichts zu rechtfertigen. In vielen Fällen gibt es bereits einen Meldebutton, mithilfe derer nicht nur der Betroffene selbst melden kann.